Modephänomen Harris Reed
Der Wandel in Person
Am Designer Harris Reed kommt in der Mode gerade niemand vorbei. Er steckte Harry Styles in einen Reifrock und stattete Iman für die Met-Gala aus. Seine Entwürfe sind elfenhafte Roben für fluide Wesen aus der Zukunft

Foto: Missoma // Harris Reeds Kollaboration mit dem Schmucklabel Missoma

Foto: Missoma // Harris Reeds Kollaboration mit dem Schmucklabel Missoma

Foto: dpa // Harris Reed (links) und Iman bei der Met-Gala in New York
Der 1. Februar 2011 ist vermutlich der bis dato beste Tag im Leben des damals 15-jährigen Harris Reed. Die "Teen Vogue" veröffentlicht ein Mini-Interview mit ihm -in der Kategorie "Best Dressed Reader of the Day". Auf dem dazugestellten Porträt trägt er hellgraues American-Apparel-Hemd, eine Vintage-Hose von Ralph Lauren, dazu eine Lanvin-Krawatte und einen D&Y-Schal. "Ich mag es, Dinge zu mischen und zu kombinieren, die man normalerweise nicht miteinander kombinieren würde", erklärt er seine Wahl. Er schaut selbstbewusst, ernst in die Kamera, sein rotes Haar zurückgegelt, in der Hand ungefährer acht "Teen Vogue"-Ausgaben, gefächert, die ihn als treuen Leser auszeichnen.
Knapp 20 Jahre später wird Harris Reed Teil einer der meistdiskutierten "Vogue"-Ausgaben aller Zeiten. Ende 2020 beauftragt Chefredakteurin Anna Wintour ihn, ein Outfit für ein besonderes Editorial zu kreieren, weniger als sechs Tage hat er dafür Zeit, die er bis zur letzen Sekunde nutzt. Das Ergebnis ist ein Oversized-Blazer mit scharfgeschnittenen, kastigen Schultern, eine überlange, weite Anzughose, beides in schwarz. Darüber sitzt ein schwarzer Reifrock, ein ausladendes Gestell, auf dem ein Rock aus weißem Tüll und pinkem Satin thront. Eine Kreation, beispielhaft für Reeds genderfluide, romantische doch dramatische Designs.
"Als ich diesen Look kreierte, wollte ich ironisch sein und den englischen Humor einbinden, mit etwa der Hälfte eines außergewöhnlichen Ballkleides und der anderen Hälfte eines Savile Row Anzuges mit einer 70er Jahre Schulter", erklärte Reed. Tragen wird den extra angefertigten Look der Sänger Harry Styles, für ein Editorial der "Vogue", deren Cover er in einem Gucci-Kleid ziert. Es ist das erste Mal, dass ein Mann allein auf dem Titel des weltberühmten Modemagazins abgebildet wird. Spätestens ab jetzt blickt die Welt, allen voran die der Mode, aufmerksam auf Harris Reed. Den feengleichen Modedesigner mit langem rotem Haar, der mit seinen schlanken 1,93 Metern - meist noch verlängert durch Plateau-Absätze - selbst einer Modeskizze gleicht. Und der zu diesem Zeitpunkt schon jahrelang mit Styles zusammenarbeitet, genauso wie mit Gucci-Creative Director Alessandro Michele. Außerdem hat Reed bereits Kleidung für Miley Cyrus, Selena Gomez und Solange Knowles entworfen.
Das Zuhause als kreatives Nest
Reed wechselte seine Pronomen Anfang 2021 zurück von they/them zu he/him. Er ist halb amerikanisch, halb britisch, wurde in Los Angeles geboren, wuchs in Arizona auf und reiste schon als Kind viel durch Europa und die USA. Sein Vater ist der Produzent Nick Reed, seine Mutter Lynette Reed arbeitete erst als Model, widmete sich später der Herstellung von Kerzen.
Reeds Zuhause ein kreatives Nest, in dem er sich schon früh ausprobierte, mit Mode experimentierte, keine Angst haben musste, er selbst zu sein, sondern von seinen Eltern in seiner Fluidität unterstützt wurde. "Schon in jungen Jahren erkannte ich die unmittelbare Macht der Mode - man kann jemanden mit etwas konfrontieren, das ihm vielleicht unangenehm ist. Als ich neun Jahre alt war, habe ich mich geoutet und angefangen, mit Geschlechterfluidität zu experimentieren. Wenn ich in der Schule ein rosa Hemd oder eine Schleife trug, verdrehte jeder den Kopf - die Psychologie, die Menschen dazu bringt, auf Mode zu reagieren oder eine Meinung dazu zu haben, fasziniert mich", sagt er. "Die Überwindung von Geschlechtergrenzen wurde für mich immer wichtiger."
Mit 13 nahm Reed an der L.A. Fashion Week teil, arbeitete als Praktikant für Designer in Los Angeles und New York. Später verbrachte er ein Jahr in Paris, woraus eine erfolgreiche Bewerbung an der renommierten Modeschule Central Saint Martins in London hervorging. London war es dann, wo Reed sich komplett entfalten konnte, seine Ideen und Visionen klarer wurden, sich die DNA seiner Arbeit herauskristallisierte. "Erst als ich in London ankam, wurde mir klar, dass dies eine Stadt ist, in der ich ganz ich selbst sein kann. Es ist ein soziales, kulturelles Modezentrum, und hier habe ich angefangen, Dinge für mich selbst zu kreieren."
Kleider, die zu Diskussionen führen
Er begann, die Silhouetten der klassischen Männermode zu verändern, erst für sich selbst, dann in seinen Designs. Für die erste Modenschau seines Bachelorkurses entwarf Reed ein Outfit, das auf einer Figur basierte, die er in seiner Kindheit erfunden hatte. Ein Aristokratenjunge, der von seinen Eltern rausgeschmissen wurde, da er schwul war und sich daraufhin in ein altes Opernhaus flüchtete, wo er sich jeden Tag weißes Puder auftrug, bis alle seine Kleider weiß wurden. Der Look vereinte Reeds Erfahrungen, durch sein Anderssein aufzufallen, seine Kindheitsfantasien und sein Bestreben, Kleider zu designen, die nicht bloß schön sind, sondern vor allem zu Diskussionen führen, eine Botschaft verbreiten.
"Ich mache nicht nur Kleidung. Wenn Sie schöne Kleidung wollen, müssen Sie zu jemand anderem gehen. Ich kämpfe für die Schönheit der Fluidität. Ich kämpfe für eine opulentere und akzeptierende Welt. Das ist wirklich wichtig für mich," erklärte der Designer ein paar Jahre später. Damals handelte es sich um einen weißen, riesigen, kreisrunden Hut, eine Schlaghose und eine weit ausgeschnittene, gerüschte Jacke mit Puffärmeln - Kleidung weder speziell für Männer, noch für Frauen - wer auch immer sie tragen möge, trage sie. Letztlich trug Solange Knowles das Ensemble bei einem Shooting mit dem Starfotografen Peter Lindbergh, der Hut wurde später zum kultigen Instagram-Filter.
Instagram ist Reeds Basis, er bespielte sie ausgiebig während des Lockdowns, knüpfte Kontakte. Hier entdeckte ihn auch der Stylist Harry Lambert und band ihn und seine progressiven Designs von nun an in eigenen Projekte ein, eines der wichtigsten dabei wohl die Ausstattung von Sänger Harry Styles für dessen Tournee. Harry, Harry und Harris seien seitdem unzertrennlich, Styles bezeichnet Reed als seine "geheime Modewaffe", sie tragen zusammengehörende Initialen-Ringe, von Gucci. Styles begeistert sich wie viele von Reeds weiteren Klienten nicht nur für seine Mode, sondern ist auch ein großer Fürsprecher der LGBTQIA+ - Community. "Wenn alles, was ich tue, so politisch ausgerichtet ist, bedeutet es, dass die Menschen, die ich verehre, nicht nur meine Kleider tragen, sondern auch an das glauben, wofür sie stehen," bestätigt Reed.
Glam-Rock-Androgynie trifft Eskapismus
Harris Reed etablierte sich als Designer, der das geschlechtsspezifische Kleidungskonzept gekonnt ignoriert und die begrenzte Idee des traditionellen männlichen Stylings neu definiert, und das wohlgemerkt noch vor seinem Abschluss. ‘Romanticism gone non-binary’ nennt er seinen Stil. "Es ist Glam-Rock-Androgynie mit einem fließenden, romantischen Eskapismus, der auch von der Ästhetik der 1970er-Jahre durchdrungen ist," erklärt Reed seinen Stil heute und ja, diese Beschreibung lässt sich ganz klar mit der stilistischen Richtung einer weltbekannten, italienischen Luxusmarke assoziieren.
So war es wohl nur eine Frage der Zeit, dass Harris Reed auf Guccis Creative Director Alessandro Michele traf, der Harry Styles ebenfalls einkleidet. Reed bewarb sich für einen Ausbildungsplatz und flog schon am nächsten Tag nach Mailand. Michele platzierte den Designer als genderfluides Model in seiner 2019 Resort-Show und in einer Kampagne für Gucci-Parfum, zusätzlich absolvierte Reed ein Praktikum. Michele und Reed eint das Faible für Magisches, Übernatürliches, ein Gespür für eine modische Zukunft, in der alle bekannten Konzepte zerfließen.
Am einprägsamsten war für den Nachwuchsdesigner jedoch der Umgang Micheles mit dessen Inspirationsquellen: "Alessandro benutzte Worte wie 'Kreatur' und 'Spinner', um die Menschen zu beschreiben, die er bewunderte, und diese Namen erinnerten mich an jene, die ich in der Schule erhalten hatte, als ich wegen meiner Andersartigkeit gemobbt wurde. Mir wurde klar, dass Mode diese unvergleichliche Kraft hat, die persönliche Identität zurückzuerobern."
Die traditionelle Modenschau ist tot
Seine Abschlusskollektion 2020 fertigte Reed im Hotel Standard, in dem er während des Covid-Lockdowns mietfrei als offizieller Designer-in-Residence lebte und arbeitete. Er ist einer der berühmtesten "Pandemic-Graduates" und ließ sich für seine sechs Looks von schillernden Figuren der Geschichte, allen voran Henry Paget, dem 5. Marquess von Anglesey, inspirieren. "Er war einfach die Verkörperung der exzentrischen Aristokratie - er scherte sich einen Dreck darum, was die Leute denken, und war sehr ausgefallen, schrullig und fabelhaft. Er gab den Gegenwert von zwei Millionen Pfund allein für Kostüme aus. Dieses Maß an trotziger Selbstdarstellung und das Spiel mit dieser Idee von Performance, Opulenz und der Tatsache, dass es uns egal ist, was die Leute über das denken, was wir auf unserem Rücken tragen, hat mich inspiriert," so Reed.
Da Central Saint Martins’ jährliche Modenschau wegen der Covid-Maßnahmen abgesagt werden musste, erstellte Reed zusammen mit Freunden einen Theaterbackground für jeden einzelnen seiner sechs Looks, in den er als Model mit dem jeweiligen Outfit hineinmontiert wurde und präsentierte seine Kollektion so online. Die konventionelle Modenschau sei als Konzept ohnehin vorbei. "Die traditionelle Modenschau ist tot. Sie wird nicht vollständig digital sein - Marken müssen einen Weg finden, eine exklusive Show für VIPs, Einkäufer und Redakteure zu veranstalten, aber gleichzeitig etwas für die Öffentlichkeit zu veröffentlichen, das mehr ist als ein Livestream," so Reed, und auch diesen Gedanken teilt er mit Alessandro Michele, der schon länger auf die klassische Modenschau verzichtet.
"Es sollte keine Männer- und Frauenkleidung geben"
Beide Modeschöpfer sind sich zu dem unabhängig voneinander darüber einig, dass die Fashion Week an sich nicht mehr zeitgemäß ist, es stattdessen saison- sowie genderlose Mode-Präsentationen geben sollte. "Es sollte keine Männer- und Frauenkleidung geben, sondern fluide Kleidung. Ich denke, es sollte die Idee geben, dass man Kleidung von Generation zu Generation weitergibt - an die eigene Tochter, an die Trans-Tochter, an den Sohn, an das nicht-binäre Kind."
Laut Reed ist es das, was Kleidung erfüllen muss, um langlebig zu sein. "Fluid Fashion" hat für ihn dabei nichts mit Unisex Mode zu tun, sondern bietet die Möglichkeit sich wo auch immer man will auf dem Spektrum zwischen Männlich- und Weiblichkeit zu bewegen. "Ich denke, bei 'Fluid Fashion' geht es viel mehr um die Idee des Selbstausdrucks und darum, sich selbst in reinster und höchster Form zu betrachten," sagt er.
Reeds steht wie kaum ein anderer für eine neue Version des Systems, zeitgemäß und voller Hoffnung, jegliche festgefahrene Rollenbilder abzulösen, die sich bis heuteso Vielem in den Weg stellen. Den Grund für den Wandel in der geschlechtsspezifischen Kleidung entstand laut Reed, da zunehmend transsexuelle und nicht binäre Menschen Einfluss auf Design genommen haben, Aktivisten wie er, und sich daran erinnert wurde, dass als weiblich wahrgenommen werden mit Nichten ein negatives Attribut ist, sondern von Schönheit zeugt.
"Schönheit ist fluid"
"Schönheit ist fluid, Schönheit ist für jeden", war auch Reeds Leitspruch, als er im Februar 2021 zusammen mit der Make-Up-Marke MAC eine genderfluide Kosmetikkollektion herausbrachte, die erste der Marke. Egal welches Geschlecht, welches Alter oder Hautfarbe, die Paletten und Stifte seien für alle, es gehe um die Freiheit, sich auszudrücken. Im gleichen Jahr gewann er den "Man of the Year Award" des Magazins GQ, ganz offensichtlich schließt das eine das andere nicht aus.
Reeds Konzept geht auf, und er verkauft es an große Marken, mit denen er kollaboriert, erst kürzlich launchte er eine Kollektion mit dem Londoner Schmucklabel Missoma. "Bei meiner Arbeit geht es um mehr als nur um die Kreation von Stücken. Es geht wirklich darum, eine Gemeinschaft, eine Welt und einen Raum zu schaffen, in dem die Menschen das Gefühl haben, dass sie am besten ausdrücken können, wer sie sind. Sie sollen sich akzeptiert und geliebt fühlen und das Gefühl haben, dass sie die Mittel haben, um mit den verschiedenen Facetten ihres Wesens zu experimentieren," erklärt er seine Arbeit mit der Marke.
Reeds erste auf einem Laufsteg präsentierte Kollektion wurde während der ebenfalls ersten genderfluiden London Fashion Week gezeigt. Männer und Frauenmode wurde in den gleiche Woche gelegt, das Event so "ent-gendert", auch aus Nachhaltigkeitsgründen, da das Reisen so minimiert werden kann. "For Now, Unexplained" hieß Reeds Kollektion aus sechs Looks, bestehend aus mit ausladenden Tüll-Röcken gekreuzten Anzügen, pinken Details und vor allem gefederten, extravaganten Kopfteilen, die mal wie ein Irokese, mal wie ein Heiligenschein um die Köpfe der Models geformt waren. Demi-Couture nennt er seine Mode, die Stücke sind handgefertigt und bestehen zum Teil aus upgecycelter Kleidung.
Seinen eindrucksvollsten Moment des Jahres 2021 hatte Harris Reed sicherlich auf der New Yorker Met Gala, an der Seite von Model Iman, das er als seinen Gast einkleiden durfte. "Didn’t unterstand the assignment" ist ein Kommentar, den Looks abbekommen, die dem Event unangemessen erscheinen. Reeds gehörte ganz klar nicht in diese Kategorie: "Ich habe das Gefühl, wenn es einen Zeitpunkt für go big or go home gibt, dann jetzt". Imans Look begann eng am Körper mit einem goldenen Jaquard-Bustier und einer Schlaghose, mündete in ein riesiges Krinolinen-Skelett, das mit Schichten aus Federn und Blattgold überzogen war und krönte das Model mit einem übergroßen, gefederten Schirm, der um seinen Kopf herum gespannt war.
"Wer zum Teufel soll das tragen, Harris?"
Harris Reed selbst, im weißen, mit Cape versehenen Anzug, trug den gleichen Kopfschmuck. Viele feierten den von ihm kreierten Look als den Gewinner des Abends. Während der Fittings sprach er viel mit Iman über deren verstorbenen Ehemann David Bowie, der einen Großteil des Moodboards für seine zweite Kollektion ausmachte. Die zeigte er kurz darauf, bei der London Fashion Week im September. Zehn Looks, gefertigt aus Vintage-Hochzeitskleidern, die Reed der Second-Hand-Kette Oxfam abgekauft hatte, um nachhaltiger zu produzieren. Das Hochzeitskleid, das vielleicht gender-spezifischste Kleidungsstück überhaupt, auseinandergenommen und für jeden tragbar gemacht.
Dass Reed seine eigene Marke führt, ist klar, doch auch die Bedeutung dieses Begriffs definiert er für sich neu. Er hat keine bestimmte Zielgruppe. "In der Schule sagten die Lehrer: 'Wer zum Teufel soll das tragen, Harris?'". Aber ich hatte ein Outfit für ein zukünftiges Wesen entworfen, das ich mir in meinem Kopf ausgemalt hatte." Schon letztes Jahr sagte er: "Ich glaube nicht, dass ein Bekleidungsunternehmen im Jahr 2020 Kleidung herstellen muss, um eine Marke zu sein". Zusätzlich zu seinen Kollektionen bietet er nur wenige Nebenprodukte an - ganz anders als große Marken, die so mehr Reichweite erlangen wollen.
Reed ist eher selbst eine Marke, vertritt ein Konzept. Und die Idee, die er personifiziert, interessiert große Konzerne, die ein Teil dieser neuen Bewegung sei möchten, fern von allem, was mal als "normal" galt. Harris Reed als Gesamtwerk ist der Wandel.
Dieser Artikel erschien am 06.10.2021 auf Monopol-magazin.de