Willkommen in der roten Zone
Gutes Wetter muss man ausnutzen! Das habe ich als Kind gelernt und werde es kaum wieder los, obwohl dieser Rat in Italien eigentlich überflüssig ist. In Florenz kann ich mich auf zahllose, sonnige Wochen verlassen, ich kann es kaum glauben. Viele Male habe ich dieses Jahr meinen Freunden die letzten schönen Tage prophezeit. Im September, Oktober, November bin ich stundenlang spaziert, denn wer weiß, wann es das nächste Mal warm wird. Meistens nach wenigen Tagen - und wieder musste ich pausenlos raus gehen, um auszunutzen. Das war in den letzten Wochen ganz schön aufregend, denn in Florenz ist wieder Lockdown. Ende Oktober, nach einem erholsamen, erleichternden Sommer, vielen Besuchern in der Stadt und langen Nächten auf vollen Piazzen, meldeten die Krankenhäuser Alarm. Die Bedrohung durch das Virus wurde allen wieder bewusst, die den Schock im Frühling langsam versucht hatten, zu verdrängen. Gelehrt von der ersten Welle handelte die italienische Regierung strategisch und ordnete jeder Region eine Farbe zu, je nach Notstand in den Hospitalen und Ansteckungstempo. Vom gefahrlosen Grün, das schon gar nicht mehr verteilt werden konnte, über das mittelmäßige Gelb, das unheilvolle Orange bis zum katastrophalen Rot verlief die Skala. Die Toskana, so auch Florenz, anfangs gelb, wurde schnell zur
orangenen und dann zur roten Zone erklärt. Nichts ging mehr. So schien es, so kündigten es die Zeitungen an. Die Regeln klangen eindeutig: Zuhause bleiben, draußen Sport machen ja, aber nur alleine, spazieren gehen in nächster Nähe der eigenen Adresse, auch alleine. Keine Freunde sehen, in der Kommune bleiben und immer die Autocertificazione (Selbstauskunft über das Motiv der draußen Seins) parat haben. Ich wurde sehr besorgt. Erinnerte die beklemmenden Bilder des Frühjahr und stellte mir vor, wie ich allein überwintern würde, unterbrochen von Spaziergängen zum Supermarkt. Am ersten Tag rot sah ich aus dem Fenster und freute mich über den Mann mit Toupet, der wie immer seinen Hund ausführte und eine Frau, die mit vollen Tüten vom Markt kam. Mutig!
Und irgendwann musste auch ich raus. Zaghaft schlich ich durch meine Straße, unauffällig in die nächste und die übernächste. Ich hatte keinen genehmigten Grund, hier so verantwortungslos herum zu streunen. Die Stadt war voll von Polizia und den Carabinieri, ständig sah ich mich um. Kamen sie an mir vorbei gefahren, erstarrte ich, mir wurde heiß und kalt, auf frischer Tat ertappt. Wen all das nicht weniger hätte interessieren könne, waren die Florentiner. Freunde auf Fahrrädern kamen mir entgegen, spazierende Senioren, Pärchen Arm in Arm. Nachbarn unterhielten sich entspannt, wenn sie sich vor der Haustür trafen. Während ich mich tagelang nur als Joggerin getarnt auf die Straße traute, ließen sie sich von dem strengen Reglement und einschüchternden Kontrollfahrten kaum irritieren. Meine florentinischen Mitmenschen folgten den Auflagen wie mit einer unausgesprochenen, von allen akzeptierten Abmachung in einem ihnen vernünftig scheinenden Maße, und ich machte mich verrückt. Ich muss noch so viel lernen.
Diese Kolumne erschien am 12.Dezember 2020 in der Tageszeitung HNA