Gegenüber der Cornflakes meiner Nachbarn
In der mittelalterlichen Stadt Florenz ist vieles verschachtelt dicht und zierlich klein. Ich lebe in einem knapp 18qm großen Studio. Wenn ich das Schlafsofa ausklappe, ist mein ganzes Zimmer ein Bett, das an der ofenlosen Küchenzeile endet. Von hier aus kann ich entspannt, über die schmale Straße hinweg, hinein in die Wohnung meiner Nachbarn schauen. Stehen wir beide am offenen Fenster, sind wir uns fast unangenehm nah. Ich erkenne, welche Cornflakes sie essen und die Augenfarbe ihrer Katze, ohne, dass wir in der Wirklichkeit, Stockwerke tiefer, je ein Wort miteinander gewechselt hätten. Generell sind Gespräche auf den Fußwegen Florenzs eine Aufgabe, denn zu zweit kann man sich nur einander folgend auf den schmalen Kanten fort bewegen. Sie sind gerade breit genug, dass ein mittelkleiner Hund neben mir spazieren gehen kann. Und auch dann winde, schlängele und neige ich mich um jeden, der mir entgegen kommt, um nicht auf die Straße ausweichen zu müssen, auf der sich Vespas, Taxis und Fahrräder drängen. Interessant wird es an Regentagen: In einem flüchtigen Blickkontakt entscheiden der Signor im dunkelblauen Anzug und ich, wer den Schirm hebt, wer ihn senkt, und wer beim Engpass doch auf die Fahrbahn tritt - meistens ich. Im historischen Stadtkern finden sich die Miniatur-Formate italienischer Supermarktketten, mit niedlicher Gemüsetheke, einem übersichtlichen Eis-Angebot, nur der beliebtesten Mozzarella-Sorte.
Es geht in eine Richtung und gibt kein Zurück, vergesse ich am Anfang die Weintrauben, krieg ich Stress beim Zurückzwängen. Hier ist bloß Platz für ein gewisses Sortiment und so leitet mich ein ausführlicher Einkauf durch das ganze Viertel. Für jede Kleinigkeit besuche ich ein eigenes, winziges Geschäft: Ferramenta, Erboristeria, Pharmacia, Salumeria, Profumeria, Pasticceria, Cartoleria und Tabaccheria vertreten in Florenz den Gang zum allumfassenden Drogeriemarkt, denn solch einer würde nirgendwo hinein passen. Die Wohnhäuser stehen wie zusammengeschoben aneinander, einige sehen aus, als wären sie im Nachhinein noch in eine Lücke oder ans Ende der Häuserreihe geklebt worden. Fahren Lastwagen zwischen den zerbrechlich wirkenden Gebäuden durch die feinen Gassen, wird mir ganz unwohl.
Im Parterre sind Bars, mit nur einem Paar Tisch und Stuhl, an denen Damen mit Dackeln einen Caffè Espresso trinken. Zum abendlichen Aperitivo bekomme ich in der Enoteca nebenan einen Plastikteller, halb so groß wie meine Hand, mit einem puppengroßen Snack zum Glas Wein gereicht. Weiter die Straße hinunter reihen sich Boutiquen mit Vitrinen voll zarter Lederschuhe, in die meine Füße niemals passen würden und maßgeschneiderter Herrenanzüge, die ich ohne Weiteres tragen könnte, ich Riesin. Wie das gebückte Großelternpaar in Blumenkleid und kurzärmligen Hemd, an dem ich mich auf der Ponte Santa Trinita vorbei schiebe, fühlt sich alles ein wenig antik an und auf eine gemütliche Größe geschrumpft. Bis meine Wege die Piazza del Duomo kreuzen und vor mir die Kathedrale Santa Maria del Fiore empor ragt, gigantisch, wie von einem anderen Planeten in der Mitte der Stadt abgesetzt worden. Grüner, weißer und roter Marmor, so hoch, dass ich meinen Kopf bis zum Anschlag in den Nacken legen muss, um die Kuppel sehen zu können und mich fühle, wie ein mittelkleiner Hund.
Diese Kolumne erschien am 03.Oktober 2020 in der Tageszeitung HNA