Neapolitan Dreams
Aus dem Augenwinkel sehe ich dunkelgrüne Chucks, die sich eilig auf den Metroeingang zu bewegen. Mein Blick gleitet über die freien Knöchel, die schwarze Stoffhose, die dort endet, wo der beige Wildleder-Trenchcoat beginnt. Es fühlt sich nicht an wie eine bewusste Entscheidung, sondern wie die einzig richtige Konsequenz meines immensen Hungers gepaart mit dem Sichten des vermutlich schönsten Mantels der Stadt, als ich sie frage, wo es denn hier wohl die beste Pizzeria geben mag. Sie bleibt stehen, lächelt mich an und sagt: Komm mit, da will ich auch gerade hin. Wir steppen zusammen die Treppen nach unten, sie ordert zwei Metrotickets und dann stehen wir nebeneinander in der U-Bahn Linie 2 und unterhalten uns über die Parsons in New York, als wäre das alles, was wir täglich so machen. Sie kommt gerade von einer Beerdigung, die Mutter ihres besten Freundes ist gestorben. Ich komme aus einer Dunkelheit von drei Stunden Schlaf und drei Stunden neben einem wirklich breit gebauten Mann, der die Hälfte meines Flugzeugsitzes zusätzlich zu seinem brauchte.
Diese Pizza dient als Beweis meiner Geschichte
Haltestelle Vanvitelli steigen wir aus, in einer zügigen Selbstverständlichkeit überquert sie Straßen, durchschreitet Galerien, umgeht im Weg stehende, alte, elegante Damen, denen einfiel, hier auf dem Fußweg kurz etwas diskutieren zu müssen. Ihr Hinterkopf immer ein halber Schritt vor mir, blondes, dickes Haar, eine Fantasie für Bad Hair Days. Ab und zu dreht sie sich um und erzählt mir was zum Stadtbild. Aber ich bin abgelenkt von den ersten Sonnenstrahlen, die nach etwa vier lichtlosen Monaten mein Gesicht erreichen und wodurch alles, was gerade passiert, noch ein bisschen unwirklicher wird. Dann stehen wir vor “Gorizia 1916”, der Pizzeria ihres Vertrauens. Sie fragt nach einem Tisch für zwei, im hinteren Raum, in der Mitte, lassen wir uns nieder. Ich habe jegliche Entscheidungsgewalt am Eingang der Metrostation abgegeben, wird mir bewusst und dass es vermutlich das Beste ist, was mir passieren konnte. Zusammen mit der Pizza, die irgendwann vor mir steht – ich habe das Gefühl für Raum und Zeit verloren und nehme alles schwebend hin. Zwischen Marmorböden, verspiegelten Wänden, weißen Tischdecken und sehr höflichen Kellnern wird mir etwas mehr die mich nach einem Billigflug bedeckende Ranzigkeit bewusst, die sich erst nach Schlaf und Dusche verflüchtigen wird aber mir ungewöhnlicherweise egal ist.
Mit einer italienischen Ruhe setzt sich ein älteres Ehepaar mit einem noch älteren Freund rechts von uns an einen Tisch. Sie grüßen die Kellner, zerbröseln kleine Baguettescheiben, greifen zwischendurch immer wieder zum Rotweinglas, unterhalten sich sehr laut und sehen dabei unendlich elegant aus, obwohl sie manchmal mit vollem Mund reden. Irgendetwas an ihrem gewohnten Dasein vermacht mir das Gefühl, ein natürlicher Teil des täglichen Treibens zu sein, als wäre ich in diese italienische Kulisse aufgenommen worden. Während ich versuche die Pizza nicht so langsam zu essen, wie ich mich fühle, schreibt das Wildleder-Mädchen wertvolle Zeilen in mein Notizbuch – etwas zu Essen bestellt sie sich nicht – und erklärt mir dabei in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit jedes einzelne Wort, verbindet Straßen mit Geschäften, Inseln mit Jets und Stadtteile mit Taxis. Das werde ich mir niemals merken können, ihre Vorschläge wären Programm für drei Wochen und um die dreitausend Euro und, eigentlich, möchte ich nur die Stadt von oben sehen, damit ich ein kleines bisschen besser weiß, wo ich mich eigentlich befinde. Das sage ich ihr, als ich kurz dran bin, etwas zu sagen und glücklicherweise kennt sie auch dafür den besten Ort – dort wohnt sie nämlich.
Ich bin immer für Spontanität. Ich wünsche mir manchmal diesen Anruf meiner besten Freundin, in dem sie nur sagt: Festival in Frankreich, morgen. Wir trampen. Doch dieser Vorschlag löst gemischte Gefühle bei mir aus. Einerseits bin ich unendlich dankbar, jemanden getroffen zu haben, der mich unter seine Fittiche genommen hat, trotz meines Erschöpfungszustandes und offensichtlicher Vernebelung. Andererseits habe ich eine so lange Netflix-Serien-Historie, dass sich ein Gedanke einschleicht, der von mir in den Fängen der italienischen Mafia handelt, weil ich grade im Begriff bin, auf eine Touristen-Masche rein zu fallen. Wiederum andererseits wartet mit einer ziemlich großen Wahrscheinlichkeit ein bestimmt grandioser Ausblick über die Stadt, die mir noch so gar nichts sagt, auf mich. Wie heißt du eigentlich? Ach ja, Nina. Nachdem ich diese Daten eingeholt habe, fühle ich mich auf der sicheren Seite und lasse meine halbe Pizza in einen Karton packen, den ich den Rest des Tages unter meinen Arm geklemmt herum tragen werde, weil kalte Pizza mindestens genau so gut ist wie warme. Wir verlassen “Gorizia 1916”, den Ort, in dem ich mich nach drei Stunden in der Stadt schon ein bisschen wie eine Neapelesin fühlte, die hier mit ihrer guten Freundin Nina regelmäßig auf eine Pizza und ein Mineralwasser vorbei kommt.
Der Weg hat es nicht in meine Erinnerung geschafft, aber wir erreichen ein riesiges Tor, hinter dem offensichtlich ein Park liegt. Später soll ich erfahren, dass es viel eher ihr Garten ist. Sie tippt einen Code in die kleine Tastatur, wir treten ein und folgen einer Straße, die durch einen hoch gewachsenen Palmenwald führt. Sie erzählt mir von ihrem Freund, ihren Zukunftsplänen, der Schule und ich erfahre, dass sie erst 17 ist. Diese Tatsache weiß sie ganz gut hinter einem unverblümten Selbstbewusstsein und einer abgeklärten Emotionslosigkeit gegenüber Geld-Dingen zu verstecken. Rechts von uns taucht ein palastartiges Gebäude in dem dunklen Grün auf, ein Museum. Wir gehen um eine Kurve, durchqueren ein letztes Stück Wald und stehen auf einer kleinen, eisernen Brücke, die vor vielen Jahren mal hellblau und weiß gestrichen worden war.
Ich befinde mich am Hang eines Berges, aber ziemlich weit oben. Direkt unter mir eine tiefe, grasbewachsene Schlucht, hinter mir eine Art Dschungel, neben mir ein Wildleder-Trenchcoat, der hier wohnt. Um mich herum ein Rahmen aus Palmenblättern und anderem Geäst, durch den hinab ich auf eine zum Heulen schöne Farbpalette schaue, zusammen gesetzt aus unendlich vielen, immer kleiner werdenden Häusern, die bis ans Meer reichen, ganz dahinten, das noch weiter in der Ferne mit dem Pantone-blauen Himmel zusammen stößt. Ich stand schon auf einer Menge Türme, Schlösser und Berge, von denen ich die Aussicht genossen habe, aber diese ist die aller erste, die mir tatsächlich den Atem raubt. Endlich weiß ich, wie sich das anfühlt. Es mag auch am Schlafmangel und genereller Überwältigung liegen, aber ich bin außer mir vor Glück. Wäre ich allein, hätte ich vermutlich wirklich geweint. So aber versuche ich, ohne eine zu emotionale Szene, jedes kleinste Detail – ein mit hellen, verschnörkelten Fliesen verkleidetes Traumhaus mit einem kleinen Balkon, auf dem ein orangener Sonnenstuhl steht, unruhiges Glitzern durch Sonne auf Ozean, ein Rauschen aus Verkehr und Wind – aufzunehmen. Was ich nicht aufnehme ist ein Foto, dazu ist es einfach zu schön.