Das Italienische Zen

Ich wäre gerne ein alter, florentinischer Mann. Ich würde eine dünne, dunkelblaue Steppjacke tragen, eine Schiebermütze und feine Loafer. Unter meinen Arm hätte ich „La Gazzetta Dello Sport“ geklemmt, eine zartrosa Sportzeitung. In meiner Hand würde sanft die Leine zu meinem Dackel liegen, in der Strandtasche meiner Frau die frischen Einkäufe vom Markt. Morgens säße ich im Café, würde einen Cappuccino trinken und vielleicht eine Zigarre rauchen, alles an mir würde sagen: sehr elegant, sehr entspannt. Il Nonno, der Großvater, Inbegriff des italienischen Zens, der mit aufgeknöpftem Hemd am Tischkopf sitzt, während ein Goldkettchen zwischen seinen Brusthaaren glitzert. Er repräsentiert am besten den Stil des süßen Lebens, in dem ein Tag spät Morgens mit Blick auf den Zitronenbaum beginnt und spät Abends mit vollen Weingläsern endet. So das Klischee. Als Einwohnerin Florenzs und im italienischen Alltag, fahre ich aber gar nicht täglich auf einer roten Vespa, Negroni trinkend, durch die Gassen. Trotzdem fühle ich mich eleganter und entspannter als an jedem Ort zuvor. Und ich habe enttarnt, warum: die Italiener entfrusten und entschleunigen ihren Alltag - und meinen auch. Missgeschicke werden großzügig übersehen und Fehler schnell verziehen, den meisten scheint nichts daran zu liegen, sich und mir das Leben schwerer zu machen, als es ist.

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Ein verloren gegangener Schlüssel ist problemlos nachgefertigt, ohne, dass es der Vermieter je erfahren muss. Kupfergeld wird ignoriert, sowie Beschwerden und festgelegte Uhrzeiten, wenn sie Stress bedeuten. An der Kasse im Supermarkt packen meine italienischen Mitbürger gern nach dem Bezahlen ein, während der Kassierer mit dem nächsten Kunden plaudert, niemand wird nervös oder laut. Und auch wütende Italiener verschleppen ihre Wut nicht, sondern lassen sie ein mal kurz, stark gestikulierend raus - e basta! Ganz sicher gibt es auch weniger Ärger durch weniger Hunger, denn die italienische Küche ist zum Glück ein einziges, weiches Comfort Food. Pasta zu jeder Tageszeit, gerne jeden Tag, und zwischendurch ein Riesensandwich beschwichtigen das aufgebrachte Gemüt. In der größten Not hilft ein Amaro.

In Italien, und besonders Florenz, ist es schwierig, sich ganz und gar trostlos zu fühlen. Der Weg zum Supermarkt gleicht dem Spazieren durch ein Freiluftmuseum, die Arztpraxis befindet sich in einem verzierten Palazzo, das Café in einem alten Kloster, grazile Statuen und gut gekleidete Menschen wohin man blickt. Italiener haben einen ausgeprägten Sinn für Schönes, es macht sie glücklich und sogar Behördengebäude erträglich. Auch wissen sie von der Wichtigkeit einer Pause zur richtigen Zeit. Um nicht nur durch den Tag zu hasten, wartet an jeder Ecke die Einladung zum kurzen Verweilen - an der Bar, auf einer Brücke oder schlendernd in der Stadt, mit Blick auf Kunstschätze und den hellrosa Sonnenuntergang. So kann man sich gar nicht beeilen und sogar ich, als Zugezogene, passe mich an die schlendernde Schrittgeschwindigkeit an. In Frieden zu spät kommen kann ich aber trotzdem noch nicht und so bedeutet die süße Lebensweise, mit all ihren Vorteilen, für mich, viel zu warten - im Kino, bei Lesungen, auf Freundinnen. Macht nichts, in der Wartezeit stelle ich mir einfach vor, ich wäre ein alter, florentinischer Mann, denn den bringt nichts aus der Ruhe.

Diese Kolumne erschien am 07.11.2020 in der Tageszeitung HNA

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