Ein Tag an der Bar

Vor Kurzem führte ich eine Unterhaltung über das Entscheiden und jemand sagte mir, dass es immer darauf ankommt, ob ich mit dem entstehenden Verzicht leben könne. „Würdest du etwa in Dänemark wohnen, würden bürokratische Abläufe wahrscheinlich problemlos funktionieren, aber du würdest im Café vielleicht gefragt werden, ob du Sahne in den Cappuccino willst.“ Das scheint mir ein zu großer Verzicht. In Florenz ist ein guter Kaffee sehr einfach zu bekommen, im besten Falle in der Bar schräg gegenüber und auf die kann ich auf keinen Fall verzichten. Egal, in welcher Straße, in welcher Stadt in Italien, diese eine Bar gibt es ganz sicher und sie ist vielleicht der italienischste Ort, den man finden kann. Es handelt sich dabei nicht um eine Eckkneipe, in der man abends ein paar Bier trinkt, oder einen Cocktail bei schummrigem Licht, die italienische Bar folgt einem anderen Konzept. Sie hat von früh morgens bis zum Abend geöffnet und im Idealfall bekommt man hier einen Cappuccino, ein Croissant, Chips, ein Rubbellos genannt „Gratta e vinci“, einen Amaro, eine Packung Marlboros, einen Teller Pasta, Kaugummis oder ein Eis. Ein Caffè Espresso am Tresen kostet einen Euro, und an eben jenem steht fast immer ein alter Mann und blättert im „Corriere“. Meine Bar heißt „Bar San Frediano“,  uns trennen nur wenige Sekunden zu Fuß, aus meinem Fenster kann ich sehen, ob sie geöffnet hat und riechen, wenn es frische Cornetti gibt.

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Sie wird betrieben von einer blonden Dame, die in ihren wenigen Pausen hinter der Kasse ein Buch liest, und ihren beiden Töchtern. Im Hintergrund läuft immer Radiomusik, vermutlich Oldies. Auf einem Board an der verspiegelten Wand stehen Likör-Flaschen von Cynar bis Ramazotti, kleine Bilder von Florentiner Größen hängen gerahmt neben dem Tabaksortiment. Die Theke ist mit Kunstholz verkleidet und wenn ich eintrete, fühle ich mich in eine Zeit versetzt, die meiner Vorstellung der 80er Jahre entspricht. Bis ich einen Pappbecher mit meiner Bestellung in der Hand halte. An dem Tag, an dem ich gefragt wurde, ob ich wie immer einen Cappuccino zum mitnehmen möchte, wusste ich, dass ich ein akzeptiertes Mitglied der Nachbarschaft und an diesem Ort, mit dieser Bar, jetzt zuhause bin. 

Die Bar ist Herzstück des Viertels und eint die unterschiedlichsten Nachbarn als ihre Kundschaft - jeder geht jeden Tag mal in die Bar. Früh morgens, gegen halb sieben, stehen Männer in dünnen blauen Steppjacken am Tresen und schlürfen ihren Caffè auf dem Weg zur Arbeit, es folgen Mütter mit ihren Kindern auf dem Schulweg, die ein Brioche als Pausensnack besorgen. Nach und nach kommen über die Morgenstunden verteilt die Stammgäste, tauschen sich mit der Besitzerin über die Corona-Lage aus, kaufen Lotteriescheine und Gebäck, rauchen zusammen eine Zigarette. Gegen Mittag gehen Sandwisches über den Tresen, gegen Nachmittag der erste alkoholische Absacker. Auf die italienische Bar kann man sich verlassen. Sie steht an Stränden, in Durchfahrts-Dörfern und Bahnhöfen. Und verirrt man sich in der toskanischen Hügellandschaft und strandet etwa in der Ortschaft Settignano, findet man auf der winzigen Piazzetta, gegenüber der kleinen Kirche, auch eine Bar. Und das ist schon genug. 

Diese Kolumne erschien am 23. Januar 2021 in der Tageszeitung HNA

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