Was die Reisenden suchen
Anfang April regnete es eine Woche lang und seit dem ist in Florenz Frühling - wahrscheinlich die beste Jahreszeit hier. An Hausfassaden, Garagentoren und Gartenlauben wächst der Blauregen wie eine unendliche Girlande, alle Bäume sind grün oder lila und die Parks sind voll von Verliebten, Familien die picknicken und zeichnenden Design-Studenten. Manchmal ist es so warm, dass die Schattenplätze knapp werden, und das im April, sehr ungewohnt. Steppjacken haben die Garderoben verlassen und die Straßen sind gespickt mit Trenchcoats, bodenlangen Blumenkleidern, pastellfarbenen Jeans und feinen Samt-Slippern in dunkelrot oder dunkelgrün, je nach gusto. Gegen Abend ist jede Treppenstufe und Steinbank im Stadtteil Oltrarno mit Bier oder Spritz trinkenden Grüppchen besetzt, aus den offenen Fenstern schallt Klavier-Geklimper und das Eissortiment im Supermercato wurde ganz offensichtlich aufgestockt. Und, man hat sie lange nicht gesehen, ein paar wenige Touristen sind zurück im historischen Zentrum. Sie gehörten mal zu Florenz wie ein Lampredotto-Panino und waren doch seit dem Sommer komplett verschwunden, die Stadt war frei und entspannt bewohnbar, Italienisch die einzige vernehmbare Sprache. Jetzt sieht man sie wieder am Wochenende, die Reisenden, gerade Pärchen. Hand in
Hand, blond, sie noch nasse Haare, er einen Rucksack auf, beide viel zu kalt angezogen - sie erwarten von Italien ganz klar ein mediterranes Sommerparadies, voll von Zitronenbäumen und antiken Statuen, mit einer konstanten Temperatur um die 30 Grad - während sie um die touristischen Hotspots streifen und Kühlschrankmagneten mit Firenze-Schriftzug kaufen. Irgendwann verlaufen sie sich zwischen Ständen mit Lederwaren, rund um den Mercato Centrale und sitzen schließlich in einem Restaurant mit eingeschweißter Speisekarte, ohne zu ahnen, dass sie gleich einen überdurchschnittlich hohen Preis für einen Teller Nudeln mit Tomaten und Knoblauch bezahlen werden.
„Ich würde dort noch nichtmal einen Caffè trinken, die haben keine Ahnung, was sie tun!“, bemerkte mein italienischer Nachbar. Vielleicht suchen sie einfach in den falschen Ecken nach den falschen Highlights, denn Florenz eignet sich sehr gut dazu, hier eine gewisse Zeit lang Urlauber zu sein. Selbst für Menschen die hier leben, mich etwa. Die Stadt lädt dazu ein, sich zu entspannen und etwas Gutes zu tun - hier ein Pistazien-Cornetto, dort eine Pause in den Boboli-Gärten, dann einen Absacker am Arno-Ufer. Durch die kleinen Gassen schlendernd sieht man Rahmenbauer, Buchbinder, Goldschmiede und Restauratoren in winzigen Werkstätten nebeneinander in einer solchen Ruhe arbeiten, dass man automatisch ein bisschen runter kommt und es sich anfühlt, als wäre man in eine schon vergangene Zeit zurück versetzt worden. Hier läuft alles etwas langsamer, es darf schamlos geraucht und hemmungslos Kohlenhydrate verspeist werden und niemanden stört es, wenn das Mittagessen mit einem Negroni beginnt. Vielleicht ist es das, was die Touristen eigentlich suchen, wenn sie ihrer Illusion eines authentischen Italiens hinter her laufen und schließlich aus Versehen eine Schürze mit dem Print von Michelangelos David kaufen.
Diese Kolumne erschien am 9.5.2021 in der HNA